Wir haben uns den Luxus geleistet und für einen Tag einen persönlichen Führer durch Valparaiso engagiert. Er heißt Leonardo und ist der Ehemann einer Kollegin. Er betreibt ein Einmann-Unternehmen und unter dem Titel „Rutas de Valparaiso“ bietet er Themen-Stadtführungen an. Viel wichtiger ist aber, dass Leonardo absoluter Valpo-Fan ist. Er stammt von den partes bajas del Cerro Placeres und wurde während eines der zahllosen Erdbeben im Krankenhaus (dort wo sich heute das hässliche Parlamentsgeschenk Pinochets erhebt) geboren und hat nur überlebt, weil sein 14-jähriger Bruder ihn aus den Trümmern gerettet hat. Er steckt voller Kenntnisse, Geschichten, Anekdoten, Mythen und abseitiger Ideen. Und er entdeckt selbst seine Stadt immer wieder neu – und diese Freude ist ansteckend.
Wir treffen uns an der verkehrsumtosten Merval-Station Baron und wir erklimmen den gleichnamigen Hügel. Kaum haben wir den donnernden Strom aus Container-Lastern, röhrenden Micros, verwegen beladenen Pritschenwagen und rasenden PKWs samt Tatzelwurm hinter uns gelassen, das reingeklotzte, überdimensionierte Kaufhaus Paris hinter uns gelassen, einen ewig nicht reparierten Ascensor betrauert (der hätte uns nämlich den Fußweg verkürzt), eröffnet sich uns ein Panorama, das die ganze Bucht von Playa Ancha bis Recreo überblicken lässt. Ach was Bucht – ein Amphitheater tut sich vor uns auf, so wie es Juan de Saavedra, den namengebenden Entdecker auch überrascht hat, ein riesiges Amphitheater, nur, dass sich seit 200 Jahren immer mehr bunte Würfel mit Freuden die steilen Hänge zum Pazifik hinunterzupurzeln scheinen. Und manches Erdbeben, manche zu kühne Holzkonstruktion, manch dreifach vorkragendes, vorne 7- hinten 2-stöckiges Haus gibt dem Drang nach. In völliger Regellosigkeit ist hier ein anarchisches Wachstum und Sterben von Gebäuden jeder Form und Größe präsentiert, reich dekoriert mit der üppigen Flora dieser Breiten. Die wenigen Gemeinsamkeiten dieser Regellosigkeit bestehen in dem Wettlauf um den besten Blick: die vista zum Meer. Daneben hat man wie immer und überall auf das Ortsübliche und leicht Erreichbare zurückgegriffen: Holz, zu seinem Schutz Wellblech, das als Ballast-Material der Segelschoner im Hafen reichlich zur Verfügung stand, und zu dessen Schutz wiederum übrige Farben, ebenfalls von den verschiedenen Schiffen im Hafen. Das Resultat ist ein exotisches Farbkaleidoskop, in dem die starken Farben dominieren, was das milchige Sonnenlicht der Küste noch verstärkt. So wird der reichlich vorhandene Verfall romantisch schnell überhöht und noch die letzte vermüllte, verkackte Seitengasse hat ihren Charme, wenn sich Hibiskus um einen ehemaligen Eingang windet und an der Plazuela ein Jacarandabaum blüht. Soll die Katze doch weiter die Plastiksäcke mit Müll durchwühlen, der Penner war ja schon vorher da.
Beschleichen den Europäer beim Betreten mancher Gässlein und Trepplein sinistre Gefühle, so wird man immer wieder überrascht, dass sich da ganz normales Familienleben abspielt, mit auf der Gasse spielenden Kindern, ratschenden Weibern, autorichtenden Anwohnern - zumindest bei Tageslicht. So wandern wir über den Cerro Baron zum Cerro Lecheros, bewundern Elendshütten und Paläste, anarchistische Wandmalereien und liebevoll gepflegte Vorgärten. Wir steigen hinab, überqueren die hässliche Argentina, wandern vorbei am hässlichen Parlament und trinken Kaffee in einer Kneipe die die Zwecke Antiquitätenladen und Café in sich vereinigt. Vor dem Parlament sind wir gerade dem Eselsmilch-Händler begegnet, der seine Eselin mit sich führt und der Kundschaft bei Bedarf frisch melkt, aber dabei versichert, dass die Mischung seines Produktes mit Brandy ein unvergleichlicher Viagra-Ersatz sei.
Unser neuer Anlauf bringt uns mit dem rumpelnden Ascensor Mariposa wieder weit hinauf und wir wandern über Cerro Florida, bis uns der Hunger wieder hinuntertreibt. Mit Leonardo landen wir in einem unvergleichlichen Lokal, dem „J. Cruz“, einem ehemaligen Lokal der Polizei, das sich jetzt auf Grund der Sammelwut seines Wirts zu einer irrsinnigen Ansammlung von Allem und Jedem gewandelt hat, was sich sammeln lässt: ostasiatische Jadefiguren stehen neben afrikanischen Buschmasken, Münzen und Medaillen teilen sich den Platz mit beschrifteten Servietten, ein Torpedo droht von der Decke, lässig belächelt von einer Schaufensterpuppe. Wo auch immer zwischen den Objekten noch Platz war, haben sich die Gäste schriftlich verewigt, so dass in diesem horror vacui tatsächlich kein Platz mehr frei ist. Wer bei all diesen Ablenkungen noch Zeit und Konzentration findet, bestellt sich eine Platte Chorillos und wird überwältigt von einem Riesenberg aus Pommes, Zwiebeln und Fleisch, die man gemeinschaftsstiftend von einer Platte isst. Für 12.500 Pesos sind wir alle gut satt geworden.
Jetzt steht ein Verdauungsmarsch an. Er führt auf Grund unseres Wunsches hinauf zum Friedhof der Dissidenten auf dem Cerro Carcel. Drohend krönen die leeren Mauern des ehemaligen Gefängnisses den Hügel. Daneben liegen hoch ummauert 2 Friedhöfe. Der traditionsreiche Friedhof der Protestanten ist noch heute in Händen einer englischen Corporación und wird von einer Alten betreut, die misstrauisch dem Besucher das Tor öffnet: zuviel sei hier schon geklaut worden. Nicht mal fotografieren oder zeichnen darf man hier. Die Diebe haben schon viele Grabfiguren auf Bestellung entwendet. Sie fürchtet sich nicht vor den Toten in der Nacht, sondern nur vor den Lebenden. Und außerdem hat die Katze gerade 5 Junge in der freien Mauernische der Grabwand geboren. Und, sehen Sie, um dieses Grab hat sich schon seit Jahrzehnten keiner mehr gekümmert. Und das ist beim letzten Erdbeben eingestürzt. Ob dieses Säulenmonument das nächste überstehen wird, ist sehr fraglich. Nein, nein, das ist alles dokumentiert. Ich kenne alle meine Toten. Ja, sie kennt sie wirklich. An uns ziehen alle die klangvollen und vergessenen Namen der deutschen und englischen Kolonie vorbei. Zu jedem Grab weiß sie was. Die Atmosphäre an diesem Ort ist unvergleichlich, die gefangene Zeit, der Verfall und gleichzeitig die rührenden Bemühungen ihn aufzuhalten, die Einsamkeit und Verlassenheit inmitten der Großstadt mit ihrer unvergleichlichen Lage und gleichzeitig der Schutz der heiligen Friedhofsmauer... Da fährt am anderen Friedhof eine ganze Reihe von Polizeiautos vor, um entlaufene Ganoven aufzuspüren.
Mit dem Micro-Bus gibt’s nun eine tollkühne Fahrt auf über 200 m hinauf auf Straßen, deren Steilheit jede Turracher Höhe zu einem Sonntagsspaziergang verblassen lassen. Da die Ausblicke so atemberaubend sind, bleibt gar keine Zeit sich über die waghalsigen Fahrmanöver unseres Chauffeurs aufzuregen – er hat auch gar keine Zeit, denn er muss dauernd mit einer Passageuse reden... Es geht an der Plaza Bismarck vorbei und kaum sind wir oben, wo die Cerros in Natur übergehen und nur noch Poblaciones den Wegrand zieren, stürzen wir uns schon wieder zu Tal (Av. Yerbas Buenas) - ich glaube, wir haben alle mitgebremst.
In der uns wohlbekannten Almte. Montt unter der alten Dt. Schule schlucken wir nach langem Warten (die Milch muss erst noch eingekauft werden) einen Kaffee: die Luft der Gegend ist eh noch vom Vorabend Tränengas geschwängert. Es gab im Rahmen der Carnevales Culturales mal wieder eine Konfrontation zwischen Jugend und Polizei.
Schließlich lassen wir uns durch das unendlich quirlige, laute, dreckige, volle Stadtzentrum (Condell, Independencia, Victoria) zurücktreiben, erleben auch noch das lautstarke Cueca-Tanzen von jung und alt in der Victoria, sind aber mittlerweile so geschafft, dass wir uns von unserem liebgewonnenen Cicerone verabschieden und mit der S-Bahn wieder nach Hause tuckern. Was für ein eindrucksreicher Tag! Vielen Dank, Leonardo! diesmal von Bernhard geschrieben
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