Auch wenn jeder Tag sehr unberechenbar und eigenwillig verläuft, so entwickeln sich mittlerweile doch etliche Routinen und Gemeinsamkeiten. Also greife ich willkürlich den heutigen Tag heraus, spreche ihm alle Individualität ab und lasse ihn sich entwickeln. Roll on, history!
Unter den Klängen von „Chile Tipica. La Musica y nuestras tradiciones“ des Uni-Senders UFSM (eine wilde Mischung aus B1 und B4) rolle ich am stramm grüßenden Portier aufs Schulgelände, überwinde die Schranke zum Hauptgebäude und parke (parkiere?) mein Fahrzeug standesgemäß vor dem des Sr Rector, der - wie immer - schon längst da ist. Unsere Fahrzeuge visualisieren durch Fabrikat und Parkplatzposition jedem Passanten die Hierarchie.
Drinnen bin ich also nicht der 1., sondern nur der4., denn vor mir hat nicht nur der Chef sein Tagewerk begonnen, sondern auch ein uralter Physik-Lehrer, der es in 2-3 Schulen auf über 50 Unterrichtsstunden bringen muss und der deshalb schon vorbereitend an seinem Stammplatz sitzt - oder hat er ihn gar nicht verlassen. Eine noch viel wichtigere Vorbereitung leistet unsere Aurora, das Faktotum und die gute Seele des Hauses. In ihrer winzigen Küche dampft und klappert es, denn um all den gleich zu spät kommenden Lehrkräften ein Frühstück zu bereiten, muss viel Wasser aufgekocht werden. Außerdem gilt es all die großen Thermoskannen mit heißem Chlorwasser zu füllen und anschließend an die Privilegierten zu verteilen: mich z.B., der ich stets ein pseudo-barockes Tischchen mit, bestückt mit Mineralwasser, Teebeuteln, Tasse, Glas und eben besagter Thermosflasche vorfinde.
Im Dienstzimmer stinkt immer der Plastik-Teppichboden, deshalb rein, Licht an, Schultasche runter, Computer an, Fenster auf, Pausebrot raus, Zugangscode rein, Terminkalender gecheckt, e-mails aufgerufen (und zwar genau in DER Reihenfolge!!!!!) und los geht’s.
Während die nachts aufgelaufenen e-mails mit erschreckender Hartnäckigkeit eintrudeln, grüßt der Mitarbeiter, der sich gleich um den Vertretungsplan kümmern wird, nicht ohne sich vorher nach dem Befinden seines Vorgesetzten und dem seiner Gattin zu erkundigen und den heutigen Stand seines Lumbago knapp zu umreißen. Da erscheint auch schon der Sr Inspector, die institutionalisierte Respektsperson einer chilenischen Schule, die hauptberuflich auf die Einhaltung der Details der Schuluniform achtet, Haarlängen begutachtet und Piercings absammelt. Meist hat sich ein besonders dreister Fall von Insolenz von Seiten eines IV°-Schülers ereignet, dem man, um Schlimmeren vorzubeugen, unbedingt heute mit der kombinierten Autorität von Inspector und Media-Leiter entgegentreten muss, weil sonst das komplexe Gebäude der disciplina Alemana endgültig zusammenbricht. Gott sei Dank fällt es mir morgens nicht schwer sehr ernst und bedenklich zu schauen.
Nachdem ich die ersten 6 e-mails vom DAV, VdLiCh, Dt. Haus, ZdI, Bibliothek des Goethe-Instituts und Chile Avanca! gesichtet habe, bleiben noch die Notizen des Chefs gebieterische Klagen des Dt-Fachleiters, wunderschöne Korrekturen meiner holzschnittigen Briefentwürfe vom Vortag durch meine liebe Sekretärin (die zu der Zeit gerade kämpft ihren pubertierenden Sohn aus dem Bett in die Schule zu befördern!) und meine nachts zuhause erstellten Unterrichtsvorbereitungen, die jetzt noch schnell auf Folien gebannt oder sonst wie verarbeitet werden müssen.
Franz, mein Chef, kommt zur Begrüßung vorbei und informiert über letzte Events (meist vom Vorabend) bzw. zu aktuellen Tagesereignissen. Dann wird es draußen laut und quirlig, mit einer gewissen Konzentration in dem vorher erwähnten kleinsten Raum, denn jetzt ist Frühstückszeit und jeder erhascht noch schnell eine Tasse des Nationalgetränks: Nescafé. Der Vertretungsplan hängt, die neuesten Aushänge sind gecheckt, die Citas („Erbitte Rücksprache“) verteilt, schon schrillt das 1. Klingeln und in dem engen Gang wirbeln diensteifrige Kolleginnen nach draußen, während verspätete Kollegen hereinwuseln und der Kopierer auf Hochtouren läuft. Ganz zufällig macht der Rector Subrogante (das bin ich!) seine Runde, wenn nicht gerade der Schülersprecher, einer Blitzidee folgend, den Antrag auf 4 Stunden spielerischer Gestaltung des „Día del alumno“ durch die SMV in radebrechendem Deutsch (ermuntert von mir in radebrechendem Castellano) vorbringt. Meist eile ich aber selbst die 2 Stockwerke hinauf, da ich selbst Unterricht habe, dabei hab ich noch Zeit, denn der Tag beginnt mit den „15 Minuten“, einer festen Viertelstunde, in der die Klassleiter, Entschuldigung: die Klassenlehrer mit ihrer Klasse zusammen sind und Organisatorisches, Disziplinarisches oder Tagespolitisches besprechen, derweilen ich auf dem Gang herumhänge und zu spät kommenden Schülern dumme Fragen stelle bzw. ebensolche Lehrer freundlich begrüße. Gleichzeitig suche ich mir aus der auf dem Korridor positionierten OHP-Flotte ein Vertrauen erweckendes Gerät aus und schiebe mich zu meinem Klassenraum, beeindruckt von den unterschiedlichen Atmosphären in den Klassenräumen. Vor manchen Türen stehen Schüler und warten („Vengo atrasado, no me deja entrar!“), andere Türen sind offen und unter einer Schicht von Schuluniformen ist der Lehrer kaum zu erkennen, der mit Handschlag und Umarmung begrüßt wird („Ola, profe, como estás?“ „Frau, Frau, no encontré mi chandal del uniforme, y por eso...“), hinter anderen Türen ist Schweigen (meditieren die oder sind Schüler wie Lehrer gar nicht da???)
Schließlich ertönt das markzerreißende Schrillen der Glocke und das Chaos beginnt: alles drängt sich auf den Gängen, denn wahlweise muss ein Fachraum aufgesucht werden oder die Klasse ist in Teilgruppen unterteilt oder alle müssen gleichzeitig nach den harntreibenden 15 Minuten aufs Klo. Jedenfalls herrscht ein Gedränge wie auf dem Gemüsemarkt on Viña, verstärkt durch die zahllosen Umarmungen und KüsschenKüsschen zwischen den Schülern und zwischen Schülern und Lehrern, die sich hier begegnen. Kaum 10 Minuten später ebbt der Lärm ab, die Türen schließen sich, die letzte versprengte Lehrkraft eilt zu ihrer Wirkungsstätte und nur noch verspätet irrende Schüler streben ihrem Unterricht zu - die Arbeit kann beginnen.
2 Kommentare:
Mein Gott Bernhard!Ist noch was von Dir übrig?Wie lange ist denn so ein Schultag?
Liebe Schwedenbesos an Euch Zwei
Hallo Bernhard,
man fühlt sich quasi live dabei, toll, wie du uns mit teilnehmen läßt am Nescaffee-Genuß! Die nächste Ausgabe enthält bestimmt eine Web-Kamera, mit der wir Dir simultan über die Schulter und in den Unterricht schauen können.
Gruß aus dem endlich frühlingshaften Weilheim - Wolfgang
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